Jemal Tavadse:
In diesem Artikel möchte ich kurz einige charakteristische Merkmale zweier Musikkulturen, der europäischen Kunstmusik und der georgischen Volksmusik, einander gegenüberstellen und die Beziehung beider im Werk der georgischen Komponisten beleuchten.
Die europäische Musiksprache entwickelte sich entlang der Polarisierung zweier Prinzipien: der „Freude“ und des „Leids“[1]. Die Herausbildung von Dur und Moll illustriert dies klar. Sie kristallisierten sich aus mehreren musikalischen Modi heraus, die in der Kunstmusik verwendet worden und aus den Modi verschiedener Völker und Ethnien hervorgegangen waren. In der Herausbildung der beiden Modi Dur und Moll manifestiert sich dieser Polarisierungsprozess auf der musiksprachlichen Ebene. Doch dieser Prozess kam mit dem „Auftreten“ und dem „Sieg“ von Dur und Moll (vom 17. bis zum 19. Jahrhundert) nicht zu seinem Abschluss, sondern, im Gegenteil, da erst begann seine intensivste Phase. So gehen mit der Zeit das konstruktive Gleichgewicht zwischen den beiden Modi sowie das semantische Gleichgewicht zwischen den von ihnen ausgedrückten Prinzipien „Freude“ und „Leid“ immer mehr verloren. Überdies erfahren die beiden Prinzipien während des ganzen Prozesses eine paradigmatische Metamorphose. Das „Leid“-Prinzip strebt zum Tragischen hin und nähert sich immer mehr dem Zentrum dieses sprachlichen Paradigmas, der Destruktion; zugleich befreit es sich von seiner notwendigen Anbindung an die Tonalität. Die Entwicklung führt über die Aufhebung des funktionalen Dur-Moll-Systems bis hin zu einer neuen Sprache der Dissonanz.
Aber damit die Gegenüberstellung klarer wird, halten wir an der Stelle der Entwicklung inne, wo das Fröhliche und das Tragische (das „Leid“) noch mit den Modi Dur bzw. Moll ausgedrückt werden. Ein Modus ist ein System, in dem die Töne in einem festen funktionalen Bezug zueinander stehen. Die beiden genannten Modi haben ein Zentrum (es gibt auch Modi ohne Zentrum oder mit zwei oder mehr Zentren). Was ist das Zentrum eines Modus? In den Modi gibt es Anziehungskräfte zwischen den Tönen und Harmonien, die in zwei Kategorien unterteilt werden: stabile und instabile. So, als stabil oder instabil, versteht sie das Ohr. Der instabile Ton strebt zum stabilen hin, und die instabile Harmonie drängt es zur Auflösung in eine stabile. Es besteht eine Hierarchie unter den stabilen Tönen, und der stabilste ist das Zentrum des Modus, genannt Tonika, von der aus die Reihe der Töne oder Tonleiter aufgebaut wird. So ist D die Tonika von D-Dur. Von der Tonika aus wird der stabilste Klang des Modus aufgebaut, der Tonika-Dreiklang. Der Dreiklang ist, wie alle Harmonien, die aus drei oder mehr Tönen bestehen, ein Akkord. Neben den Tönen und den Akkorden gibt es noch die Intervalle. Das Intervall ist der Zusammenklang von zwei Tönen. Sowohl die Intervalle als auch die Akkorde werden in konsonante und dissonante unterteilt. Zum Beispiel ist der Tonika-Dreiklang konsonant, weil alle Intervalle, aus denen er aufgebaut ist, zwei Terzen und eine Quinte, konsonant sind. In Dur und Moll sind klanglich stabile Akkorde Dur- oder Moll-tonal; das heißt, sie enthalten in ihrer Essenz Freude oder Leid. In diesem tonalen System besitzen nicht nur die Akkorde, sondern auch die Intervalle eine funktionale Neigung hin zu Dur- oder Moll-Tonalität. Folglich basiert die gesamte Semantik der europäischen Musik jener Epoche in dieser Anziehung hin zur Freude oder zur Trauer, zum Heiteren oder zum Tragischen, wobei diese Begriffe in ihrer Gegensätzlichkeit und Polarität zu verstehen sind.
Richten wir nun den Blick auf die georgische Volksmusik.
Auch hier stehen wir vor einem entwickelten funktionalen polyphonischen System mit seinen Anziehungs- und Abstoßungskräften. Im Allgemeinen ist es eine dreistimmige Polyphonie, obwohl in einigen Gebirgsregionen auch zwei- und einstimmige Lieder zu hören sind. So verschiedenartig und vielgestaltig die georgische Volksmusik auch ist, mit ihrer Vielfalt an Gattungen und ihren spezifischen, in ihrem Charakter manchmal sogar radikal unterschiedlichen Tönungen in den Liedern verschiedener Regionen, so einen diese doch ein allen gemeinsames Gesetz der Auflösung instabiler Harmonien in stabile und der Begriff des Zentrums des funktionalen Systems. Das musikalische Geschehen tendiert hier zur Auflösung in die Quinte oder ins Unisono (es gibt auch andere Arten der Auflösung, die jedoch vom hier behandelten Gesichtspunkt her keine Ausnahmen darstellen). Oben haben wir im Zusammenhang mit dem Dur-Moll-System den Tonika-Dreiklang, den stabilsten Akkord des Modus, als aus drei Intervallen bestehend beschrieben, nämlich zwei Terzen und einer Quinte, und wir haben gesagt, dass dieser Akkord aufgrund seines Klangcharakters „fröhlich“ oder „traurig“ sein kann. Alle Dreiklänge weisen dieselbe Struktur auf, und alle haben entweder einen „fröhlichen“ oder einen „traurigen“ Charakter. Das erwähnte Quintintervall im Dreiklang wird durch den Zusammenklang des untersten und des obersten Tones des Dreiklangs gebildet. Dieses Intervall allein trägt keine Tönung der „Freude“ oder des „Leides“ in sich; diese treten erst bei Hinzufügung des dritten, mittleren Tones zu diesen beiden Tönen auf. Von der Stellung dieses mittleren Tones hängt es ab, ob es sich um einen Dur- oder einen Moll-Dreiklang handelt. Die Hinzufügung dieses mittleren Tones zur Quinte in den definierten Fällen modifiziert zwar den Klang, zerstört aber nicht die Logik und das Gesetz des funktionalen Dur- und Moll-Systems. Gänzlich anders ist dies aber im Fall der georgischen Volksmusik. Hier ist es nicht möglich, der abschließenden Quinte, in welche die funktionale Dynamik aufgelöst wird, einen weiteren Ton hinzufügen, ohne das immanente Gesetz ihrer Musiksprache zu zerstören. Jeder Versuch hierzu müsste fehlgehen; jeder zusätzliche Ton wäre einer zu viel. Die Quinte tönt hier in ihrer reinen Natur. Es ist die absolute Konsonanz ohne Überwiegen des „Fröhlichen“ oder des „Traurigen“, es ist die „richtige Proportion“, ein ungespaltener Kern. Das heißt, das Zentrum des funktionalen Systems der georgischen Volksmusik ist nicht geteilt, nicht gespalten in zwei gegensätzliche Pole. Die geistige Welt dieser Musik ist die Welt der ungeschiedenen Seele. Es ist die nicht-individuelle, in einen kollektiven Organismus eingebundene Seele. Die Seele leidet nicht (individuelles Gefühl), und wenn sie sich freut, entspringt die Freude den Kräften der Natur, in welcher Leben und Tod Stationen im Kreislauf der konstanten Erneuerung, von Werden und Vergehen sind und der Tod Teil des Geheimnisses des Daseins ist und alle Kräfte in den Proportionen, wie sie dem Kosmos zugrundeliegen, wirken. Dem könnte man entgegenhalten, dass ja alles Volkstümliche das Kollektive ausdrückt und dies nicht nur der georgischen Musik eigen ist. Ein solcher Einwand wäre natürlich legitim. Doch sollte man auch die Modi der europäischen Volksmusik und die ihnen zugrunde liegenden musikalischen Modi der Antike nicht außer Acht lassen und ebenso wenig die Präsenz der beiden genannten Prinzipien in ihrer Unterschiedenheit, wenn auch in verschiedenen Proportionen untereinander vermischt, sowie die anhebende Individualisierung ihres Gehalts in ihrer noch embryonalen Potenz übersehen. Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Artikels genügt es uns allerdings, diesen Kontrast zwischen den beiden Musikkulturen, der europäischen Kunstmusik und der georgischen Volksmusik, in ihrer Orientierung festzuhalten (der grundlegende Unterschied betrifft nicht allein das Gebiet der Musik, sondern ist ein viel weiteres Thema, mit dem wir uns an dieser Stelle nicht befassen möchten).
Im 19. Jahrhundert kam die Oper nach Georgien. 1851 wurde das Opernhaus von Tiflis fertiggebaut, und 1918 wurde die erste georgische Oper uraufgeführt. Diesem Ereignis folgte eine ausgedehnte Aktivität der georgischen Komponisten sowohl in der Komposition von Opern wie auch in anderen Gattungen. Musikalisch in Russland ausgebildet, lernten sie die Disziplinen der europäisch-russischen Kunstmusik: Instrumentierung, Formanalyse, Kontrapunkt. Diese basierten auf dem Dur-Moll-harmonischen Denken, auf dem Erfahrungsschatz der zum Ausdruck des Tragischen, des Schmerzes und der individuellen Gefühle hin orientierten Kultur – ihrem konkreten Stand, wie sie sich in den Beziehungen zwischen Morphologie des Ausdrucks und geistigem Gehalt darlebte. Die Schaffung der georgischen Nationaloper galt damals als eine sehr wichtige Angelegenheit. Der Tendenz ihrer Zeit folgend, griffen die georgischen Komponisten auf die Volksmusik zurück. Aber niemand bemerkte damals – und noch heute sind nur sehr wenige imstande zu verstehen –, wozu dies führte: Jede orchestrierte Volksmelodie, die ihr spezifisches harmonisches Gesetz voraussetzte und in sich, in ihrer Struktur, trug, sträubte sich gegen die Gewalt, mit der ihr das harmonische Dur-Moll-System übergestülpt wurde. Und der kulturelle Gehalt des europäischen dualistischen Geistes sperrte sich gegen die Gewalt, mit der ihm die „Sterilität“ der Auflösung in indifferente Intervalle zugemutet wurde. Das Prinzip der europäischen Kultur, wie es sich in der Dur-Moll-Tonalität darbot, strebte danach, Tragödie, Drama und individuelle Bedeutung entstehen zu lassen, musste aber steril bleiben, da seine ganze bipolare Energie gewissermaßen bloß in das Erdungskabel, d.h. die grundlegenden indifferenten Auflösungsintervalle Quinte oder Unisono, hineingeleitet wurde. Um ihren Werken eine europäischere Tönung zu verleihen, bearbeiteten und modifizierten die Komponisten das volksmusikalische Material, passten es dem europäischen Geschmack an und setzten Dreiklänge, wo eigentlich nur Quinten hingehörten; doch die innere Struktur ließ sich nicht übertönen und klang durch das Gewebe musikalischer Machart hindurch. Am Schluss wurde die ungeschiedene georgische Seele klebrig vom Zuckerwasser, das aus den Augen troff, während man versuchte, Tränen zu weinen, ohne Tränendrüsen zu haben, und fossilisierte in einer lügnerischen Grimasse, da man versuchte zu lächeln, ohne zu wissen, warum. Die nachfolgende Generation georgischer Komponisten fand sich auf einem leeren Feld, auf dem kein Gebäude der nationalen Kultur sie erwartete, das den Hammerschlägen der Zeit widerstehen konnte.
(Übersetzung aus dem Spanischen: Georges Raillard)
[1] Solche Ausdrücke sind, in Ermangelung einer objektiven Sprache, in ihrer sprachlichen Bedingtheit zu verstehen.
© Jemal Tavadse